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10 2004

No excuses!

Friedrich Tietjen

Wenn Benjamin in seinem Text über den Autor als Produzenten die Rolle des Schreibenden behandelt, so fällt die relative Absenz derer auf, für die er schreibt – des oder besser: der Rezipienten. Vordergründig sind sie sehr anwesend: Benjamin versah seinen Text mit genauen Angaben über Ort und Zeit und redet seine Zuhörer gleich im ersten Satz und im Verlauf des Textes immer wieder direkt an; doch trotz aller Anrufungen handelt es sich dabei mit einiger Sicherheit um eine Mystifikation: Weder kann das Datum stimmen, noch hat sich bisher irgendein Beleg gefunden, dass er im Institut pour l'étude du facisme überhaupt irgendeinen Vortrag gehalten habe.[1] Interessanter verhält es sich dagegen mit den Rollen, die das Publikum als Gegenstand der Reflexionen Benjamins spielt. Zwar weist er immer wieder auf die Bedeutung hin, die die Solidarität mit dem Proletariat für die Arbeit der Schriftsteller habe, doch eingehender wird das Thema in drei verschiedenen Passagen des Textes verhandelt: Zum ersten Mal taucht das Publikum konkret auf, als Benjamin über Tretjakows Erfahrungen in der Kolchose Kommunistischer Leuchtturm berichtet: Der Schriftsteller unternimmt es hier unter anderem, Massenmeetings zu veranstalten und zögernde Einzelbauern von den Vorzügen des Beitritts zur Kolchose zu überzeugen.  Benjamin stellt hier einen auffälligen Gegensatz zu dem her, was gemeinhin als schriftstellerische Arbeit verstanden wird: Nicht dem Schreiben von Büchern soll seine Aufmerksamkeit gelten, sondern der Organisation seiner Leser, für die das Buch nur eines unter vielen Mitteln ist; nicht das Werk an sich ist von Bedeutung, sondern die Wirkungen, die es zeigt. Ein zweites Mal ist vom Publikum ausführlicher die Rede, als Benjamin über die Arbeit für die Zeitung redet: Es sei ihre Ungeduld, die die Leser an die Zeitung binde, die Ungeduld "des Ausgeschlossenen, der ein Recht zu haben glaubt, selber mit eigenen Interessen zu Wort zu kommen."[2] Die bürgerliche Presse werde dessen Herr, indem sie ihren Lesern immer neue, wahllos assimilierende Sparten zur Verfügung stelle. In der sowjetischen Presse seiner Zeit sei es jedoch so, dass der Lesende "dort jederzeit bereit [ist], ein Schreibender, nämlich ein Beschreibender oder auch Vorschreibender zu werden. Als Sachverständiger ... gewinnt er Zugang zur Autorschaft."[3] Was die Arbeit des Autors hier auszeichnet, ist ihr aktivierender Gestus – ein Gestus, der in letzter Konsequenz dazu führen soll, dass die Lesenden selbst Schreibende werden – dass, mit anderen Worten, die Position des Autors nicht festgeschrieben, sondern 'operativ' wird, um einen Terminus Tretjakows zu bemühen. Und implizit nimmt Benjamin diesen Gestus noch an einer anderen Stelle auf, wenn er betont: "Ein Autor, der die Schriftsteller nichts lehrt, lehrt niemanden."[4] Die Schriftsteller – das sind potentiell alle Leser. Ein letztes Mal geht Benjamin auf das Publikum ausführlicher ein, als er René Maublancs Antwort auf eine Umfrage zitiert: "Unzweifelhaft schreibe ich fast ausschließlich für ein bürgerliches Publikum (...)," antwortet der auf die Frage, für wen er schreibe, "weil ich von bürgerlicher Herkunft, bürgerlicher Erziehung bin und aus bürgerlichem Milieu stamme, dergestalt natürlich geneigt bin, mich an die Klasse zu wenden, der ich angehöre, die ich am besten kenne und am besten verstehen kann. Das will aber nicht heißen, daß ich schreibe, um ihr zu gefallen oder um sie zu stützen. Auf der einen Seite bin ich überzeugt, daß die proletarische Revolution notwendig und wünschenswert ist, auf der anderen Seite, daß sie um so schneller, leichter, erfolgreicher und weniger blutig sein wird, je schwächer der Widerstand der Bourgeoisie ist."[5] Nicht weiter ausgeführt wird dabei allerdings, mit welchen literarischen Mitteln der Widerstand der Bourgeoisie zu schwächen sei.

Benjamin benennt für das Verhältnis des Autors zu seinen Lesern also drei Kennzeichen: Der Schriftsteller soll die Proletarier organisieren, und er soll sie aktivieren; ihre Feinde hingegen soll er schwächen. Will man angesichts der seitdem erheblich veränderten politischen Landschaft Begriffe wie den des Proletariats vermeiden, so ließe sich mit Benjamin verallgemeinern, dass Gesten wie die des Organisierens, des Aktivierens und des Subvertierens es sind, die Kunst mit der richtigen politischen und damit auch der richtigen ästhetischen Tendenz auszeichnen – mit der richtigen politischen Tendenz, denn fraglos kann keine Kunst das politische vermeiden, selbst dann nicht, wenn sie sich als unpolitisch zu gerieren versucht; Benjamins Argumentation baut ja darauf auf, dass die politische Tendenz der künstlerischen inhärent ist.[6]

Benjamin war zu seiner Zeit nicht der einzige, den die Frage nach der Position des Autors, des Künstlers in den politischen Auseinandersetzungen beschäftigte. Nicht zufällig zitiert er Tretjakow und Brecht – beide hatten ihrerseits schon vorher zu dem Problem Stellung genommen. 1923, sechs Jahre nach der russischen Oktoberrevolution, wandte Tretjakow sich gegen eine falsch verstandene Revolutionierung der Kunst: "Allerdings hielt man zunächst noch die Kunstarbeit für revolutionär, die die Kunst als einen organisierten Produktionsprozess zur zweckmäßigsten Nutzung des sprachlichen, farblichen, plastischen und musikalischen Materials auffasste. Das revolutionäre lief gewöhnlich auf die Verwendung eines revolutionären Sujets oder einer revolutionären Figur im Werk hinaus. ... Es ändert sich nur das Thema, alles Übrige bleibt beim alten, die Isoliertheit der Kunst vom Leben und ihr Hinterherhinken."[7] Tretjakows alternative Überlegungen zielen in eine ähnliche Richtung wie die Benjamins: "'Kunst für Alle' [darf] ... nicht darauf ausgehen, alle Menschen in Zuschauer zu verwandeln, sondern muß im Gegenteil dafür sorgen, daß sich alle die Fähigkeiten und Fertigkeiten aneignen, Material zu handhaben und zu organisieren, was bislang den Kunstspezialisten vorbehalten war. ... Im Zusammenhang mit der Revolution und der durch sie eröffneten Perspektiven muß die Frage der Kunst als ästhetischer Produktion und Konsumtion und der Wechselbeziehung zwischen Kunst und Leben aufgeworfen und analysiert werden."[8] Seine Forderung ist also, den Produktionsapparat umzubauen, ihn neu zu organisieren: Kunst soll nicht allein von Spezialisten produziert werden, sondern potenziell von allen; und sie soll kein ästhetizistischer Luxus sein, sondern eine Notwendigkeit des aktiven Lebens.

Mit anderen Prämissen, aber ähnlichen Argumenten formulierte Brecht gut zehn Jahre später die "Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit". 1934 publiziert sollen sie eine Anleitung geben für die schriftstellerische und propagandistische Arbeit im Kapitalismus im Allgemeinen und unter den Bedingungen des Hitlerfaschismus im Besonderen. Brecht legt dabei weniger Gewicht als Tretjakow und Benjamin auf die Aktivierung der Rezipienten zu eigenständiger Produktion; dagegen macht er sich ausführlich Gedanken darüber, wie die zu schreibenden Wahrheiten – oder mit Benjamins Worten: Texte mit der richtigen Tendenz – auszusehen haben und wie sie denen zukommen können, in deren Händen sie wirksam werden: "Die Wahrheit kann man nicht eben schreiben; man muß sie durchaus jemandem schreiben, der damit etwas anfangen kann."[9] Mit anderen, mit Benjaminschen Worten: Die politische Tendenz eines Werkes richtet sich auch nach den Lesenden, die erreicht werden sollen. Am ausführlichsten befasst sich Brecht mit der List, die zur Verbreitung der Wahrheit nötig sei. An Beispielen erläutert er, dass die literarischen Formen nicht der Dekoration dienen, sondern dass durch sie die Wahrheiten erst darstellbar und vermittelbar werden; auch sei es nicht unbedingt notwendig, sich stets nur mit den Hauptwidersprüchen zu befassen: "Die Vorkämpfer der Wahrheit können sich Kampfplätze aussuchen, die verhältnismäßig unbeobachtet sind. Alles kommt darauf an, daß ein richtiges Denken gelehrt wird, ein Denken, das alle Dinge und Vorgänge nach ihrer vergänglichen und veränderbaren Seite fragt."[10]

Würden die Forderungen und Fragen Benjamins – und mit ihnen jene Tretjakows und Brechts – nicht mehr relevant sein, diese Tagung wäre ein müßiger akademischer Zeitvertreib. Zu Recht weist allerdings das mit der Einladung verschickte Diskussionspapier darauf hin, wie grundsätzlich sich die Bedingungen und Probleme heute von denen unterscheiden, mit denen sich die Autoren in ihrer Zeit auseinander zu setzen hatten. Ich möchte die dort genannten Bedingungen im Folgenden aufnehmen und modifizieren.

Ein erstes Problem stellt sich darin, dass sich das Publikum der Kunst im Allgemeinen und das der politisch engagierten Kunst im Besonderen radikal verändert hat. Es ist einerseits größer geworden: Mit den alten Meistern und den Kostbarkeiten des Altertums hat auch die Gegenwartskunst insbesondere in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten einen ungeahnten Zulauf gehabt, profitierend vom Tourismus, von der Attraktivität der Sammlungen als Wertanlage, von aufwändig inszenierten Ausstellungen und schließlich von den immer fließenderen Übergängen zwischen Kunst und Kommerz. Gegen diesen Anschluss an die Massenkultur ist grundsätzlich auch wenig einzuwenden, im Gegenteil: Er vergrößert ja den potenziellen Radius künstlerischer Wirksamkeit, und er steuert der ästhetizistischen Zufriedenheit in der Kennerschaft entgegen. Problematisch ist eher, wenn sich die Kunst in der Massenkultur als wirkungslose einrichtet und Geschmäcker bedient, statt Haltungen zu verändern, mit anderen Worten: wenn sie einen Produktionsapparat beliefert, ohne ihn zu verändern.[11] Und diese Belieferung des Produktionsapparates kann zuweilen eigentümliche Formen annehmen. Lassen Sie mich dazu eine Anekdote erzählen: 1999 sollte ich über die Ausstellung After the Wall in Stockholm eine Rezension schreiben, ohne allerdings selbst dorthin reisen zu können. Ich ließ mir den Katalog schicken, und als ich noch ein paar weitere Fragen hatte, rief ich im Moderna Museet an. Durch einen merkwürdigen Zufall kam ich an einen schwedischen Journalisten, der mir einiges über die Auseinandersetzungen hinter den Kulissen berichtete – unter anderem darüber, dass ein Gutteil der beteiligten Künstlerinnen und Künstler nicht eben glücklich sei, unter dem Label East Art subsumiert zu werden; immerhin kamen die Werke aus voneinander weit entfernten Ländern mit unterschiedlicher Geschichte wie Moldavien, Litauen, Polen und Russland. Das einzige, so der schwedische Journalist, was allen diesen Ländern gemeinsam sei, wäre, dass sie keinen Kunstmarkt hätten. Dieser Gedanke blieb haften und begann mich zu verfolgen. Als ich 2002 die Biennale in Dakar besuchen konnte, traf ich auf ein ähnliches Phänomen: Auch hier bezogen sich eine Installation aus Marokko, Fotografien aus Zimbabwe und Skulpturen aus Togo auf je unterschiedliche Kontexte und Historien und wurden dennoch zu African Art verallgemeinert, einem Label, das auf dem internationalen Kunstmarkt womöglich verkaufsfördernd, vor Ort jedoch einigermaßen sinnlos war. Entscheidend daran ist, dass die künstlerische Produktion in beiden Fällen auf den westlichen Kunstmarkt zielt, oder anders: dass in erster Linie für diesen Markt und bestenfalls in zweiter für ein lokales Publikum produziert wird. Wenn in dem Diskussionspapier zur Konferenz darauf hingewiesen wird, "that in many post soviet countries politically and socially active art is not developed",[12] ist dies auch als Indiz für diese Konzentration auf den westlichen Markt zu verstehen. Immerhin kann diese Konzentration kaum den Künstlerinnen und Künstlern vorgeworfen werden: Sie gehen dorthin, wo sie ihre Arbeit und ihre Arbeitskraft verkaufen können. Fehlende intellektuelle und finanzielle Förderung, unbefriedigende Lebensbedingungen und ein autokratisches Regime haben über die Jahre nicht nur in Jugoslawien einen brain-drain ausgelöst, der heute noch nicht abgerissen ist. Es ist, als sei in der Kunstwelt der Kalte Krieg und seine territoriale Aufteilung der Welt noch nicht beendet.

Eine zweite Veränderung zu den Zeiten Benjamins, Brechts und Tretjakows stellt sich darin, dass kaum noch eine politische Instanz fassbar ist, mit der sich über die Richtigkeit einer Tendenz sinnvoll streiten ließe. Kaum jemand hier wird sich die kommunistischen Parteien zurückwünschen, weder die der 20er und 30er Jahre mit ihren euphemistisch Säuberungen genannten Massenmorden und auch nicht die der 70er und 80er mit ihrer erstickenden Bürokratie und ihrer herzlich kleinbürgerlichen Ästhetik. Dennoch waren diese Parteien, teils aus eigener Machtvollkommenheit, teils aufgrund der ihnen zugeschriebenen Autorität als Repräsentanten des revolutionären Proletariats die Gesprächspartner oder auch Gegner bei der Bestimmung der je richtigen politischen Tendenz der Literatur im Besonderen und der Kunst im Allgemeinen. Nach dem Ende der Sowjetunion hat weder die Sozialdemokratie noch die unorganisierte Linke diese Rolle ausfüllen können – erstere wegen oft fehlender Kompetenz und mangels Interesse, letztere weil sie ohnehin mehr als zuvor uneins darüber war, wie eine Kritik des offenbar so umfassend siegreichen Kapitalismus aussehen könnte. Auch hier konnte der Kunstmarkt teilweise in die Bresche springen: Für Erfolg und Verkäuflichkeit von Werken kann ein Kriterium die politische Tendenz sein – eine Tendenz freilich, die mit der Benjamin’scher Provenienz nicht mehr allzu viel zu tun hat. Das Ende des Realen Sozialismus ging sicher nicht einher mit einem Ende politischer Kunst, aber es stellte die Bestimmung ihrer Tendenz vor neue Probleme – und es verwies die Arbeit an dieser Bestimmung einmal mehr darauf, dass weniger das Thema politisch korrekt zu sein habe (wie der Sozialistische Realismus es so eifrig wie vergeblich vorexerziert hatte), sondern dass formale und technische Diskussionen in diesem Zusammenhang von größter Bedeutung sind. Wenn Kunst "repeatedly takes new effects from political struggles just to entertain an anonymous audience [without changing the capitalist production apparatus",[13] wird sie darüber sicher nicht politische Kunst oder auch nur in die politischen Kämpfe eingreifen.

Ein drittes Problem besteht darin, dass die politische Prämissen, unter denen Benjamin antrat, gründlich diskreditiert sind: Es dürfte im Westen wie im Osten kaum noch eine politische Organisation von einigem Gewicht geben, die die Abschaffung des Kapitalismus auf ihre Fahnen geschrieben hat. Links zu sein erschöpft sich oft genug in Vorschlägen zur ökologischen und sozialen Reform des bestehenden Systems, im pragmatischen Willen zum Machbaren oder in der einfachen Affirmation des Status Quo. Damit aber wird schwerer bestimmbar, was denn je das politisch Richtige oder die richtige politische Tendenz in der Kunst und der Literatur sei; allerdings sind in der jüngeren Vergangenheit wenige interessante Werke produziert worden, die ihre Basis auf den genannten Haltungen haben. Andererseits ergibt sich aus dieser Situation eine der Möglichkeiten gegenwärtiger Kunst – und mit ihr übrigens auch der Kunstkritik und der Kunstgeschichte: Benjamin argumentiert, "daß die politisch richtige Tendenz eine literarische Tendenz einschließt. Und um das gleich hinzuzufügen: diese literarische Tendenz, die implicit oder explicit in jeder richtigen politischen Tendenz enthalten ist – dies und nichts anderes macht die Qualität eines Werkes aus."[14] Benjamin weigert sich damit, die politische und die künstlerische Tendenz als voneinander getrennte Komponenten zu betrachten, die einem Werk beigefügt werden müssen wie einer Suppe die Gewürze. Beide sind vielmehr notwendiger, wenn auch nicht hinreichender Bestandteil jeden Werkes; und wenn, wie Benjamin an anderer Stelle bemerkt, die "literarische Tendenz (...) in einem Fortschritt oder in einem Rückschritt bestehen kann,"[15] dann wird deutlich, dass auch die politische Tendenz eines Werkes nicht notwendig eine richtige sein muss.

Wenn all die genannten Schwierigkeiten bestehen; wenn das Publikum der Kunst zu seinem überwiegenden Teil ohnehin schon politisiert oder an Politik nicht besonders interessiert ist; wenn kaum noch relevante politische Instanzen zur Diskussion zur Verfügung stehen; wenn Aktionen im saisonalen Ausverkauf Aufsehen erregen und in der Politik eher verpönt sind; und wenn man dennoch der Ansicht ist, dass die Welt, um belebt zu bleiben und für viele lebenswerter zu werden, Änderungen vertragen könnte, die weit über einen Wechsel in der amerikanischen Präsidentschaft hinausgehen, wenn all dies gilt, dann stellt sich die Frage, wie Kunst ihre Potentiale dahingehend nutzen kann. Ich bin kein Lehrmeister; ich denke aber, dass Benjamins Text einige Hinweise geben kann.

Die eben angesprochene Äquivalenz, die Benjamin zwischen künstlerischer und politischer Tendenz herstellt, deutet auf ein erstes Feld hin: Dreht man die üblicherweise nahe liegende Gleichung um, so muss ein Werk mit der richtigen künstlerischen Tendenz notwendig auch die richtige politische Tendenz aufweisen; und so ist es nicht nur die Kunst, die sich der Politik zu erklären hat, sondern umgekehrt muss sich die Politik auch der Kunst verantworten. Mit anderen Worten: Man kann versuchen, Kunst als politischen Indikator zu lesen und fragen, in welchem Verhältnis die Implikationen der Kunst zu den gesellschaftlichen Verhältnissen stehen und zu den Kräften, die sie in welcher Weise auch immer zu ändern versuchen. Deswegen die Trennung zwischen Politik und Kunst aufheben oder wenigstens die Politik ästhetisieren zu wollen ist keineswegs die zwingende Konsequenz, im Gegenteil: In einem anderen Text, dem Essay über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit weist Benjamin darauf hin, wie der Faschismus diese Ästhetisierung betreibt. "Die Massen haben ein Recht auf Veränderung der Eigentumsverhältnisse; der Faschismus sucht ihnen einen Ausdruck in deren Konservierung zu geben. [...] Der Vergegenwärtigung der Massen, die er im Kult eines Führers zu Boden zwingt, entspricht die Vergewaltigung einer Apparatur, die er der Herstellung von Kultwerten dienstbar macht."[16]

Die Apparatur, von der Benjamin hier spricht, kommt auch in seinem Text über den Autor als Produzent vor: Dort taucht er genauer bestimmt als Produktionsapparat auf und bezeichnet in einem weiter gefassten Sinne nicht allein die Werkzeuge der Autoren – also Pinsel, Computer, Kamera – sondern den produktiven Kontext, in dem sie und für den sie angewendet werden: Theater, Literatur, Film. Zwei Mal bezieht sich Benjamin hier auf Brecht und dessen episches Theater als Gegenmodell, um seinen Punkt ganz klar zu machen, dass "einen Produktionsapparat zu beliefern, ohne ihn ... zu verändern selbst dann ein höchst anfechtbares Verfahren darstellt, wenn die Stoffe, mit denen der Apparat beliefert wird, revolutionärer Natur sind."[17] Dem epischen Theater hingegen sei es durch bestimmte vorzugsweise technische Eingriffe gelungen, "den Funktionszusammenhang zwischen Bühne und Publikum, Text und Aufführung, Regisseur und Schauspieler zu ändern."[18] Diese Eingriffe in den Produktionsapparat setzen voraus, dass dessen Struktur einer Analyse unterworfen wird – einer Analyse, als deren Konsequenz genau solche Eingriffe beabsichtigt sind.

Wie kann ein solches Zusammengehen von Analyse und Aktion aussehen? Lassen Sie mich meine Vorstellungen mit einem Beispiel illustrieren: Im Rahmen eines größeren Projektes in der Hamburger Kunsthalle realisierte die Künstlergruppe LIGNA im nahe gelegenen Hauptbahnhof im Februar 2002 ihr Radioballett. Hatten sie sich schon seit Anfang der 90er Jahre mit den Produktions- und Rezeptionsstrukturen des Radio auseinandergesetzt, unternahmen sie es mit dem Radioballett, den öffentlichen Raum zum Ort und Gegenstand ihrer Arbeit zu machen und dafür einen Platz zu wählen, der wenigstens in Deutschland im vergangenen Jahrzehnt wie kaum ein anderer zum Modell der Re-Formierung innerstädtischer Strukturen geworden ist: Als aus der Bundesbahn die Deutsche Bahn AG wurde, gelangten auch die Bahnhöfe in Privatbesitz und verwandelten sich binnen kurzer Zeit von Transiträumen, in denen Obdachlose, Drogenabhängige und andere Arme wo nicht gern gesehen, so doch geduldet wurden, in Shoppingmalls mit Gleisanschluss, die den Aufenthalt solcher Randgruppen schlicht als Geschäftsschädigung verstanden. Über diese teils schleichenden und unscheinbaren Veränderungen wollte das Radioballett nicht berichtend aufklären – es sollte die Hörenden die Untersuchung der "Grauzone zwischen erlaubten, zwielichtigen und verbotenen Gesten"[19] selbst durchführen lassen. Nicht ihre Empathie war dabei gefragt, sondern eine tätige Reflexion des Alltags solcher Orte. Der Aufbau des Radioballetts ist schnell erklärt: Mit Hilfe des örtlichen freien Radios FSK wurde eine vorproduzierte Sendung übertragen, die Handlungsvorschläge ebenso wie Thesen zum gestischen Radiohören enthielt; die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden gebeten, sich mit kleinen tragbaren Radios im Hauptbahnhof aufzuhalten. Hilfreich für die Mobilisierung erwies sich, dass die Deutsche Bahn AG im Vorfeld versuchte, das Radioballett als unerlaubte Versammlung auf privatem Grund verbieten zu lassen; die Richter folgten in zwei Instanzen der Argumentation von LIGNA und befanden einerseits, dass auch Privatbesitz öffentlicher Raum sein kann; andererseits handele es sich beim Radioballett eben nicht um eine Versammlung, sondern um eine Zerstreuung. Und so konnten an einem Samstag Nachmittag auf den Bahnsteigen und in den Geschäftspassagen des Hauptbahnhofs etwa 300 Menschen beobachtet werden, die für eine Stunde synchron die Hand ausstreckten, auf dem Boden saßen, tanzten oder eben Radio hörten.

Um einen der gelegentlichen Einwände gegen das Radioballett vorwegzunehmen, den nämlich der Manipulation: Den Zuhörenden wurde genau jene Freiheit eingeräumt, die die gegenwärtige Gesellschaft ihren Mitgliedern in solchen Fällen zugesteht: nämlich nicht mitzumachen, etwas anderes zu machen, zuzuschauen, wegzugehen oder abzuschalten, mit einem Wort: einer der Anrufungen nicht zu folgen, derer es in Hauptbahnhöfen mittlerweile so viele gibt: Fahrplandurchsagen, Sonderangebote, die überall angeschlagenen Verhaltensmaßregeln und die stumme Drohung der Sicherheitsdienste. Diesen Ansprachen setzte das Radioballett nichts entgegen – es machte sie statt dessen sichtbar und wertete sie aus, indem es die teilweise minimalen Unterschiede auslotete, die erlaubte von unerlaubten Gesten trennen: Sich die Hand zu geben ist ein zugelassenes Ritual, doch wer die Hand ausstreckt, um zu betteln, wird vertrieben. Diese Auswertung wurde mit Hilfe des Radios betrieben, jenes Mediums also, das ubiquitär ist wie kaum ein zweites: Die Sendung konnte überall im Kerngebiet Hamburgs gehört werden, und die billigsten Empfangsgeräte kosten kaum mehr als ein paar Euro. Und schließlich ist das FSK als Freies Radio für seine Hörerinnen und Hörern zugänglich: Sie können dort selbst Sendungen machen.

Solcherart veränderte das Radioballett den Produktionsapparat, den es belieferte. Es nahm die Setzungen des Mediums auf und setzte sie in seinem Sinne ein, indem es die Zuhörenden zu eigenem Handeln aufrief, dazu nämlich, dass sie auch selbst das Medium zuhörend verändern: Wie, wo und ob die Handlungsvorschläge umgesetzt und welche weiteren Konsequenzen gezogen wurden, lag schließlich in ihrer eigenen Verantwortung. Spätere Arbeiten von LIGNA nahmen dieses Moment auf. Mit einer Radiodemonstration konnte bei einer anderen Gelegenheit ein Demonstrationsverbot konterkariert werden: auch hier wurden die Hörenden aufgefordert, sich in die Hamburger Innenstadt zu begeben und dort öffentlich Radio zu hören – und nach eigenem Belieben das Demonstrationsverbot mit Passanten zu diskutieren oder schlicht durch ihre Präsenz Sand in das selbstverständliche Getriebe der Einkaufsmeilen zu streuen.

"Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, daß die Gedankengänge, vor deren Abschluß wir stehen, dem Schriftsteller nur eine Forderung präsentieren, die Forderung nachzudenken, seine Stellung im Produktionsprozeß sich zu überlegen."[20] In ihrer Allgemeinheit spricht Benjamins Zusammenfassung nur die Schriftsteller an, und zu denen zählte er sich sicher auch selbst. Der Autor als Produzent war nur ein Text unter mehreren, die die Rolle des Schreibers, des Intellektuellen zum Gegenstand hatten, eine Rolle, die für Benjamin in jeder Hinsicht prekär war. Theoretisch unterstützte er den Kommunismus, auch wenn er auf Distanz hielt. Praktisch war seine Situation insbesondere in den ersten Jahren des Pariser Exils außerordentlich finster: Er war einsam und musste dauernd umziehen, weil er kaum Geld hatte. Gerade zum Überleben genug verdienend, musste er jede Gelegenheit ergreifen, um Texte in der einen oder anderen Form zu publizieren. In seinem Essay lässt sich Benjamin nicht weiter darüber aus, wovon die Autoren als Produzenten leben sollten; doch in einem etwa gleichzeitig verfassten kleinen Text mit dem Titel Käuflich, doch unverwertbar gibt er dazu folgende Information: "Die große Masse der Geistigen ... ist in trostloser Lage. Schuld ist an dieser Lage aber nicht Charakter, Stolz und Unzugänglichkeit. Die Journalisten, Romanciers und Literaten sind meistens zu jedem Kompromiß bereit. Nur wissen sie das nicht, und eben dies ist der Grund ihrer Mißerfolge. Denn weil sie es nicht wissen oder nicht wissen wollen, daß sie käuflich sind, darum verstehen sie nicht, von ihren Meinungen, Erfahrungen, Verhaltungsweisen die Teile, die für den Markt Interesse haben, abzulösen. Sie suchen vielmehr ihre Ehre darin, in jeder Sache ganz sie selbst zu sein. Weil sie sich nur 'im Stück' verkaufen wollen, werden sie ganz genau so unverwertbar wie ein Kalb, welches der Schlächter seiner Kundin nur im ganzen würde überlassen wollen."[21]

 

Bibliographie

Benjamin 1991: Walter Benjamin: Aufsätze, Essays, Vorträge [Band II der Gesammelten Schriften]. Frankfurt (Suhrkamp) 1991

Benjamin 1991a: Walter Benjamin: Abhandlungen [Band I der Gesammelten Schriften]. Frankfurt (Suhrkamp) 1991

Brecht 1957: Bertolt Brecht: Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. In: Versuche 20-21. Berlin (Suhrkamp) 1957

Brecht 1966: Bertolt Brecht: Radio – eine vorsintflutliche Erfindung? In: Ders.: Schriften zur Literatur und Kunst, Bd. 1, p. 127-130. Berlin/Weimar (Aufbau Verlag) 1966

Tretjakow 1985: Sergej M. Tretjakow: Kunst in der Revolution und Revolution in der Kunst. Ästhetische Produktion und Konsumtion. In: Ders.: Gesichter der Avantgarde. Berlin/Weimar (Aufbau Verlag) 1985


[1] Vgl. Benjamin 1991, Bd. II/3, p. 1460 ff.

[2] Benjamin 1991, Bd. II/2, p, 688

[3] Benjamin 1991, Bd. II/2, p. 688

[4] Benjamin 1991, Bd. II/2, p. 696

[5] Benjamin 1991, Bd. II/2, p. 699 f.

[6] Vgl. Benjamin 1991, Bd. II/2, p. 684 f.

[7] Tretjakow 1985, p. 92 f.

[8] Tretjakow 1985, p. 96

[9] Brecht 1957, p. 93

[10] Brecht 1957, p. 99

[11] Vgl. Benjamin 1991, p. 692

[12] Diskussionspapier

[13] Diskussionspapier

[14] Benjamin 1991, p. 684 f.

[15] Benjamin 1991, p. 686

[16] Benjamin 1991a, p. 506

[17] Benjamin 1991, p. 692

[18] Benjamin 1991, p. 697

[19] Manuskript Radioballett

[20] Benjamin 1991, p. 699

[21] Benjamin 1991c