Anna Liv
Ahlstrand: Als welche Art von
politischen Akteur siehst du dich? Siehst du dich als
Aktivisten und deine Tätigkeit als eine Form von künstlerischen
Aktivismus?
Oliver Ressler:
In einem gewissen Sinn sind alle meine Projekte politisch.
Sie werden in öffentlichen Räumen realisiert, als themenspezifische
Installationen in Ausstellungen oder als Videos. Zieht
man diese verschiedenen Formate in Betracht, ist es
klar, dass die Projekte auf unterschiedliche Weise funktionieren,
dass sie für verschiedene Öffentlichkeiten realisiert
werden und dass sie unterschiedliche Reaktionen auslösen.
Einige meiner Arbeiten weisen einen sehr direkten Bezug
zu Aktivismus auf, zum Beispiel das Video „This is what
democracy looks like!“ (38 Min., 2002), welches ich
als Teilnehmer einer Anti-Globalisierungsdemonstration
realisiert habe, oder das Video „Disobbedienti“ (54
Min., 2002) über diese aktivistische Bewegung in Italien.
Andere Projekte hingegen weisen keinen Bezug zu Aktivismus
auf. Ich bezeichne mich daher als Künstler und nicht
als Aktivist, da ich ein Künstler bin, der einen Teil
seiner Arbeit in Verbindung zu Aktivismus stellt, und
kein Aktivist mit einem Hintergrund als Künstler.
A.A.:
Warum hast du dich entschieden, Machtstrukturen in der
Ökonomie zu fokussieren? In welcher Verbindung steht
das Project „Alternative Economics, Alternative Societies“
zu deiner früheren Arbeit?
O.R.:
Mein erstes Projekt, das einen deutlichen Bezug zu Ökonomie
aufwies, war eine Serie von Ausstellungen mit dem Titel
„The global 500“, die erstmals 1999 realisiert wurde.
Das Projekt basierte auf einer Recherche über die Protagonisten
der ökonomischen Globalisierung, die 500 größten transnationalen
Konzerne. Diese Arbeit könnte als eine Analyse und Kritik
der hegemonialen Ökonomie beschrieben werden, die in
einer Ausstellung artikuliert wurde. In späteren Arbeiten
habe ich Praxen des Widerstandes gegen den Kapitalismus
fokussiert und die beiden erwähnten Videos realisiert.
Von dem Punkt aus ergab sich innerhalb meiner künstlerischen
Praxis der nächste logische Schritt, sich auf Konzepte
und Modelle für Alternativen zu konzentrieren, deren
Gemeinsamkeit eine Zurückweisung des kapitalistischen
Herrschaftssystems ist. Dieser Themenbereich zeichnet
sich vor allem durch seine Abwesenheit in so vielen
theoretischen Beschreibungen der kapitalistischen Ökonomie
aus, was es für mich noch spannender machte, selber
eine Recherche über Alternativen zu initiieren – die
in dem fortlaufenden, permanent ergänzten Ausstellungsprojekt
„Alternative Economics, Alternative Societies“ veröffentlicht
wird. In einer Zeit, in der der neoliberale Slogan „there
is no alternative“ immer noch tonangebend ist, ist es
meiner Meinung nach absolut notwendig, sich mit Alternativen
zu beschäftigen.
A.A.:
Was sind deine eigenen Vorstellungen von Demokratie
und alternativen Ökonomien und Gesellschaften? Wie siehst
du die Potenziale für soziale Veränderung und die Entwicklung
der Machtstrukturen in der Gesellschaft?
O.R.:
Für mich gibt es ein paar grundlegende Prinzipien, die
in einer idealen zukünftigen Gesellschaft erfüllt sein
müssten: Es sollte eine wirkliche, direkte Demokratie
sein und nicht so eine Fake-Demokratie, in der wir heute
zu leben gezwungen sind. Die Grundbedürfnisse eines
jeden Menschen müssen erfüllt werden, zum Beispiel durch
ein Existenzgeld. Unternehmen sollten durch Selbstverwaltung
durch die in den Unternehmen arbeitenden Menschen gemeinsam
organisiert werden. Die Herrschaftsstrukturen des Staates
und des privaten Kapitals müssen abgewickelt werden.
Ich bin nicht sicher, wie eine auf solchen Prinzipien
basierende Gesellschaft am besten erreicht und organisiert
werden könnte... Ich fühle mich sehr zum zapatistischen
Konzept des „fragenden Laufens“ („preguntando caminamos“)
hingezogen. Dieses hinterfragt die eigene Praxis, während
ein nicht von vorneherein feststehender Weg gebahnt
wird. Dieses Prinzip spiegelt auch den konzeptionellen
Rahmen wider, in dem „Alternative Economics, Alternative
Societies“ realisiert wird, da das Projekt auf einer
voranschreitenden Recherche basiert und kontinuierlich
weiterentwickelt wird, ohne dass zum jetzigen Zeitpunkt
klar ist, wohin dieser Weg führen wird.
A.A.:
Was sind deine Ziele und Intentionen mit diesem Projekt?
Wie könnte es sich weiterentwickeln? Kannst du heute
noch an Utopie glauben?
O.R.:
Die Intention des Projekts ist es, Menschen Ideen zur
Verfügung zu stellen, auf denen eine bessere Gesellschaft
als die heute existierende basieren könnte. So eine
Gesellschaft sollte nicht durch eine Art Masterplan
erreicht werden, den sich eine kleine Elite ausgedacht
hat. Sie sollte sich auf Grundlage eines umfassenden
Prozesses entwickeln, der auf breit angelegten Dialogen
basiert und so viele Menschen wie möglich involviert.
Es sollte sich um offene, transparente Entscheidungsfindungsprozesse
von Unten handeln. In einem der Videos, die ich für
„Alternative Economics, Alternative Societies“ realisiert
habe, weist der deutsche Autor Christoph Spehr darauf
hin, dass utopisches Denken heute nichts in dem Sinne
vorschreiben darf, dass es diktiert, was zu tun wäre.
Ich halte das für einen sehr wichtigen Aspekt, eine
Gesellschaft entlang von Linien zu entwickeln versuchen,
die nicht von vorneherein festgelegt sind. Man kann
so eine Gesellschaft natürlich als utopisch bezeichnen,
aber sie wäre sehr verschieden von den Formen von Utopien,
die wir in der Vergangenheit kennengelernt haben.
Im Rahmen von „Alternative Economics,
Alternative Societies“ werden theoretische Konzepte
von alternativen Ökonomien und Gesellschaften, historische
Modelle, die es wert sind, näher angesehen zu werden,
und auch eher utopische Ansätze oder sogar Beispiele
aus der Literatur als 20 bis 37 Minuten lange Videos
präsentiert. Für die Zukunft wäre ich daran interessiert,
diesen Pool an Videos durch Beispiele von alternativen
Modellen zu erweitern, die es im Moment z. B. in
bestimmten Regionen in Südamerika gibt. Einige der Videos
des Projekts skizzieren auch Strategien und Ideen für
einen Übergang, wie ausgehend von dieser Gesellschaft
eine andere erreicht werden könnte.
A.A.:
Wie willst du deine BetrachterInnen positionieren?
O.R.:
In der Regel gehen BesucherInnen der Ausstellung „Alternative
Economics, Alternative Societies“ zuerst einmal im Ausstellungsraum
umher und lesen die aus Klebefolien produzierten Bodenbeschriftungen.
Diese Texte sind Zitate aus den Videos, die auf getrennten
Monitoren in verschiedenen Bereichen des Ausstellungsraumes
gezeigt werden. Die Videos werden nicht-hierarchisch
gegliedert in der Ausstellung gezeigt, und die einige
Meter langen Bodenbeschriftungen führen den Besucher
oder die Besucherin direkt zu jenem Video, aus dem das
Zitat stammt. So beginnt diese Person normalerweise
damit, jenes Video anzusehen, von dem er oder sie nach
dem Lesen des Zitats denkt, dass es interessant sein
könnte. Einige Leute bleiben über zwei Stunden in der
Ausstellung und sehen sich alle Videos an. Andere schauen
mal zehn Minuten von einem Video an und ein paar Minuten
von einem anderen und suchen sich jene Ideen heraus,
die für sie interessant sind, denken darüber nach, sprechen
eventuell mit anderen Menschen in der Ausstellung, kombinieren
verschiedene Ideen miteinander oder vielleicht mit Vorstellungen,
die sie bereits vor dem Besuch der Ausstellung hatten.
A.A.:
Wo kann Kunst effektiv sein? Glaubst du wirklich, dass
politische Kunst das Potential hat, die gesellschaftliche
Debatte oder das politische System zu ändern?
O.R.:
Die Diskussion über gesellschaftliche und ökonomische
Alternativen ist nicht nur durch die dominierenden Medien
marginalisiert, sondern auch durch die linken Oppositionen
in den Parlamenten, die Mehrheit der NGOs, die meisten
TheoretikerInnen und PhilosophInnen und sogar von großen
Teilen der Anti-Globalisierungsbewegung. Heutzutage
weiß fast jeder um die katastrophalen Auswirkungen des
Kapitalismus, dass er für Millionen Menschen im Süden
jedes Jahr den Tod bedeutet, aber dennoch mühen wir
uns ab, um irgendwie in diesem System zu überleben,
um kleine Vorteile zu erreichen. Durch diese Aktivitäten
halten wir das System jedoch am Leben – weil Perspektiven
für Alternativen nicht wirklich bekannt und wahrgenommen
werden. Mit dieser Arbeit unternehme ich ein paar kleine
Schritte. Ich recherchiere Modelle zu ökonomischen und
gesellschaftlichen Alternativen und veröffentliche diese
Recherche durch die Videos, die ich realisiere und die
im Rahmen der sich weiterentwickelnden Ausstellungsserie
zu jenem Pool an Informationen hinzugefügt werden. Ich
nutze den Raum der Kunst, um diese Recherche und die
Informationen für einige Menschen zugänglich zu machen,
weil ich das Gefühl habe, dass Kunst einer der wenigen
verbliebenen Bereiche ist, in denen es noch möglich
ist, kritische Themen anzusprechen und sich mit diesen
zu beschäftigen. Sehr oft wird ja Kunst selber als eine
Form utopischen Denkens angesehen. Aber nur wenige KünstlerInnen
widmen ihre Arbeit politischen, sozialen und ökonomischen
utopischen Ansätzen, was meiner Meinung nach heute von
großer Bedeutung wäre. Ich mache einfach ein paar Schritte,
und hoffe, einigen Leuten durch diese Arbeit Anregungen
geben zu können.
A.A.:
Meinst du, dass es möglich ist, die ökonomische Realität
zu ändern?
O.R.:
Ansätze, die ökonomische Realität zu ändern, kann man
auch heute schon beobachten. Nach dem Zusammenbruch
der neoliberalen Ökonomie in Argentinien haben große
Teile der argentinischen Bevölkerung versucht, die bestehenden
politischen Verhältnisse umzuwerfen. Nachbarschaftsversammlungen
wurden organisiert, in großen Gruppen „proletarisches
Einkaufen“ praktiziert, Fabriken und Unternehmen besetzt,
kollektiviert und von den ArbeiterInnen selber verwaltet.
Zur Zeit gibt es eine sehr interessante Situation in
Venezuela, wo die amtierende, linksgerichtete Regierung
einen Prozess der Demokratisierung der Wirtschaft und
der ganzen Gesellschaft unterstützt. Natürlich werden
solche Tendenzen mit großen Schwierigkeiten konfrontiert.
Es gibt Boykotte und die USA haben sogar einen Putsch
der rechten Opposition in Venezuela gegen die demokratisch
gewählte Regierung unterstützt. Aber zumindest sehen
wir, dass Alternativen zum neoliberalen Kapitalismus
möglich sind, und zur gleichen Zeit sehen wir, dass
diese vom globalen Kapital, von den europäischen Staaten,
von den USA, unterdrückt werden. Daher ist es extrem
wichtig, dass die radikalen politischen Oppositionen
in den Zentren des Kapitalismus die politischen Eliten
stärker unter Druck setzen. Wenn über einen Zeitraum
mehrerer Jahre so ein Prozess des Widerstandes Erfolg
hat, könnte eine Änderung der ökonomischen Realitäten
zumindest wieder vorstellbar werden.
A.A.:
Glaubst du, dass Kunst als eine vermittelnde und kreative
Kraft die Gesellschaft und Menschen ändern kann?
O.R.:
Klar, das kann manchmal schon funktionieren. Kunst kann
ein sehr wichtiges Mittel in bestimmten Situationen
darstellen. Erinnere dich z. B. an die Posterkampagnen
der KünstlerInnen(kollektive), die im Rahmen der Act-up
Bewegung in den 80er Jahren in den USA realisiert wurden.
Diese haben das öffentliche Bewusstsein für die AIDS-Epidemie
verschärft und Druck auf die konservative US-Administration
ausgeübt, ihre Politik der Ignoranz gegenüber der AIDS-Krise
aufzugeben. Aber Act-up ist auch ein Beispiel dafür,
dass Kunst vor allem in Zusammenarbeit mit anderen sozialen
Gruppen Erfolg hat und größeren Einfluss gewinnen kann.
In vielen dieser gesellschaftlich motivierten Zusammenschlüsse
verringert sich auch die Notwendigkeit, die Aktivitäten
als „Kunst“ zu definieren. Menschen aus unterschiedlichen
Feldern verbringen einfach ihre Zeit miteinander und
arbeiten für ein gemeinsames Anliegen.
A.A.:
Könnte ein Risiko darin bestehen, dass man an Schlagkraft
verliert, wenn man mit Kunst agiert?
O.R.:
In unserer Gesellschaft dominiert eine Art von Kunst,
welche in ihren interessanteren Ausformungen durch ihre
Struktur und versteckten Referenzen schwierig zu verstehen
ist, und in den schlechteren Fällen versucht, Bedürfnisse
nach Schönheit und Unterhaltung zu befriedigen, oder
einfach als Repräsentationssymbol für die Machthaber
fungiert. Es ist ziemlich klar, dass diese Funktionen
einen großen Einfluss auf das vorherrschende Bild von
„Kunst“ haben. Aber der Begriff „Kunst“ wird auch für
einen viel kleineren Prozentsatz jener Kunstpraxen verwendet,
die politische und gesellschaftliche Bereiche thematisieren
und in diesen intervenieren und wenig mit den Statussymbolen
einer reichen, selbst ernannten Elite zu tun haben.
In so einer Situation kann es aus strategischen Gründen
sehr wichtig sein, die Tatsache, dass politisch engagierte
Kunst auch Kunst ist, deutlich hervorzuheben, um die
Definitionsmacht dessen, was als Kunst gesehen wird,
nicht den kommerziellen Galerien und dem Kunstmark zu
überlassen. Die letzten zwei Documentas waren auch deshalb
sehr wichtig, da sie für ein großes Publikum politische
Kunst als „Kunst“ präsentierten.
Die Strategien in meiner Arbeit
unterscheiden sich von Projekt zu Projekt, weil jedes
eine spezifische Strategie verfolgt. Ich bin am Transfer
von Themen vom realpolitischen Raum in den symbolpolitischen
Raum interessiert, und vielleicht dann wieder zurück.
Wenn man auf diese Weise an themenspezifischen Projekten
arbeitet, ist es meiner Meinung nach extrem wichtig,
die Projekte auf eine Art zu realisieren, dass sie nicht
nur von ExpertInnen für zeitgenössische Kunst gelesen
und verstanden werden können, sondern auch von einem
breiteren Publikum, um den isolationistischen Tendenzen
des Kunstfeldes entgegenzuwirken. Aber es hängt vom
Kontext ab: Während es im einen Kontext wichtig sein
könnte hervorzuheben, dass meine Arbeit Kunst ist, kann
das in einem anderen Kontext, z. B. wenn ich Arbeiten
für öffentliche Innenstadträume realisiere, notwendig
sein, Kunst zu realisieren, die auch unter der Voraussetzung
funktioniert, dass Menschen sich nicht über die Tatsache
bewusst sind, dass das, was sie sehen, Kunst ist.
Deutsche Übersetzung
eines Interviews, das Anna Liv Ahlstrand für die schwedische
Zeitschrift Hjärnstorm auf englisch geführt hat.
Weitere Informationen
über Oliver Resslers Projekte: www.ressler.at
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